Er hatte einen Buckel am Rücken und war damals wohl fast 70 Jahre alt. In meinen Augen war er ein sehr, sehr alter Mann, da ich erst 17 war. Er ging immer so laut mit seinem Stock an unserer Terrasse vorbei, und ich hatte das Gefühl, irgendjemand hatte ihm die Aufgabe gegeben, mich zu stören. Es war ihm auch keineswegs egal, ob ich ihn grüßte, deshalb überquerte er die grüne Wiese ein paarmal am Tag und sagte jedes Mal laut und deutlich “Guten Tag!“.
„Buckelchen“ – schrien die Kinder hinter ihm her, und warfen Birnen und Äpfel auf seinen Buckel. Langsam bemerkte ich etwas: seine Neugier. Ich schob bei seinem nächsten Vorbeigehen meine Bücher nach vorn und ermöglichte ihm so einen Blick auf deren Titel. Bingo! Er hielt an und schaute erst mich und dann die Bücher an. Sein Blick verharrte dann auf meinem Gesicht. Meine Person interessierte ihn wirklich, und was ich den ganzen Tag mit den Büchern machte. Warum steckte ich meine Nase so tief in diese Bücher?
Das Begrüßungsritual eröffnete schließlich nach ein paar Tagen ein Gespräch. „Ich lerne“ – präsentierte ich kurz meine Aktivitäten. „Und was lernst du so?“ – kam seine Frage, wie aus der Pistole geschossen. „Ich bin in der Geschichtsprüfung durchgefallen. Diese Prüfung beinhaltet den Stoff der letzten 3 Jahre, und mir liegt Geschichte nicht.“ Auf einmal fühlte ich mich so erleichtert nach der ehrlichen Antwort. Hier musste ich niemandem vormachen, dass ich in allen Fächern toll bin. Der Lehrer war in meinen Augen gemein gewesen, er wusste, dass ich eine große Zuneigung zur Literatur habe, und mit dieser versiebten Prüfung hatte er mich nun für alle frechen Antworten der vergangenen 3 Jahre bestraft.
„Buckelchen“ war alt, einsam und müde. Ich irgendwie auch. Die Aufstände und Kriege aus meinen Geschichtsbüchern warf ich ständig durcheinander. Sie warfen mich Jahrhunderte zurück, und hier gab es keine jungen Menschen, mit denen ich über die Gegenwart sprechen konnte. Einsam war ich hier, aber auf eigenen Wunsch. Ich war freiwillig zum Geburtsort meiner Mutter gegangen, um mich ungestört für die erneute Prüfung vorzubereiten. Auf diesem Berg, wo unser Haus stand, gab es unter der Woche nur alte Menschen und kleine Enkelkinder.
Meine taktlosen 17 Jahre hatten auch meine Neugier nicht gestoppt. Ich schaute auf seinen Rücken und studierte seinen Buckel. „Ich war nicht immer so`“ – las er die Frage in meinen Augen und fuhr fort. „In den Minen ist das passiert…Neunzehnhunderteinundfünfzig“. Ja, in den Minen passierte immer was in den fünfziger Jahren. Schlechte Arbeitsbedingungen, keine richtigen Sicherheitsmaßnahmen, unzählige Unfälle. Ich schloss das Geschichtsbuch und hörte ihm zu. Ein paar Stunden lang. Der alte Mann erzählte von der Arbeit und dem Leben, von Freude und Trauer, von Geburten und Abschieden … Am Ende drehte er sein Gesicht zum Sonnenuntergang und sagte lauter: „Von der Arbeit wird man alt und grässlich. Schaffe lieber die Prüfung“.
Die Prüfung habe ich tatsächlich geschafft. Der junge Lehrer war mit seiner Rache zufrieden und sagte: „Gut gemacht, aber das ist nicht Dein Fach Nelly!“. Ja, richtig. Geschichte ist nicht mein Fach. Er war trotzdem nicht kleinkariert und ließ mich meiner literarischen Gabe folgen. Aber ein paar wichtige Aufstände und Kriege habe ich immer noch im Kopf. Nur den alten Mann hatte ich komplett vergessen. Man erzählte mir später, dass er bei seinem Spaziergang im Dorf gestorben war. Man hatte ihn mit dem Stock in der Hand gefunden, angelehnt an einen Baum, so dass sein Buckel nicht zu sehen war. „Ja! Er hat sich dafür geschämt“ – dachte ich, als ich das ganze Gespräch Jahrzehnte später rekonstruierte. Aber warum? – fragte mich meine inzwischen erfahrungsgereifte Natur. Natürlich. Auf einmal wusste ich es. Der Buckel symbolisierte für ihn alles, was ihm die Arbeit genommen hatte. Sogar an seinen Namen erinnerte sich keiner. Er war für alle nur noch „Das Buckelchen“.
Die 17-jährige Schülerin, die für die Geschichtsprüfung im Dorf gelernt hat, ist noch wach in mir. Auch der alte Mann ist in meine Erinnerungen zurückgekehrt. Sein Satz „Die Arbeit macht die Menschen alt und grässlich“ hat mich unbewusst vor Fehlern bewahrt und mir den richtigen Weg gewiesen. Daraus ist mein Satz entstanden:
„Mach, was du liebst und liebe was du machst.“