Früher war es eher unüblich, sich öffentlich als Karrieremensch zu bezeichnen. Menschen, die Karriere gemacht haben, waren immer gut angesehen – keine Frage. Wer hätte schon etwas gegen Menschen, die mit Auszeichnung eine Hochschule absolvieren, danach promovieren und sich eine gute Position erarbeitet haben? Niemand natürlich!
Und nun? Dürfen wir uns selbst Karrierefrau und Karrieremann nennen? Klingt das nicht tatsächlich angeberisch? Oder ist es nur eine übliche Bezeichnung fleißiger Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen wollen bzw. gemacht haben?
Nehmen wir zum Beispiel Georges Touma, meinen Auszubildenden, den ich vor drei Jahren in meine Firma aufgenommen habe. Als mir seine Bewerbung durch die IHK Köln zugeschickt wurde, sagte ich ihm, dass ich schon eine Menge Flüchtlinge kennengelernt hatte, aber bis jetzt – wegen der meist großen Sprachbarriere – noch niemanden davon einstellen konnte. Ich gab ihm eine Woche Zeit, um zu überlegen, warum er bei meiner Firma die Ausbildung machen möchte und was das für ihn bedeutet.
Nach zwei Tagen rief mich Georges an. Ich war im Auto und führte das Gespräch durch die Freisprechanlage. Mein Mann war dabei und wir hörten zusammen das Motivationsstatement von Georges: „Ich sah Ihre Mitarbeiter und ihre Arbeit. Bitte nehmen Sie mich in Ihrem Team auf. Ich möchte Karriere als Sprachhändler machen!“
Karrierewunsch? Sprachhändler!
Was? In seinem Zeugnis stand „C2“ als Bewertung seiner Deutschkenntnisse, aber die Wortwahl klang komisch für mich. Er soll doch nur ausgebildet werden!? Was für eine Karriere ist denn bitte das? Ich fragte nochmal nach und mein Anrufer wiederholte eindeutig den Grund seiner Bewerbung: „Karriere als Sprachhändler machen“. Damals war das für mich Ausdruck eines „ausländisch Deutsch“. Mit der Tür ins Haus – wie man sagt. Ich dachte mir: Er hat nicht mal eine Ausbildung und möchte Karriere machen?! Da bin ich gespannt…
Dazu kamen noch die Emotionen des jungen Mannes, die unterdrückten Worte, und ich wusste manchmal nicht mehr, ob ich ihn akustisch nicht verstehe, oder ob ich von einer falschen Wortwahl verwirrt bin. Dann übersprang ich das große Wort Karriere und fragte nach seinem Berufswunsch: „Was möchten Sie werden?“ – „Sprachhändler. Sie handeln doch mit Sprachen, oder?“ – „Ja, wir vermitteln Sprachen und sorgen für einwandfreie Verständigung“. „Aber sind wir dadurch Sprachhändler?“, ging es mir durch den Kopf. Ha! Der Mensch hatte gerade eine neue Bezeichnung für die Vermittlung von Übersetzungsaufträgen kreiert. Ja, warum nicht! Zwei einfache Wörter zusammengesetzt, bildeten den Wunschberuf des Mannes, der – weit von Deutschland – im zerstörten Aleppo in Syrien geboren worden war.
Das war vor drei Jahren.
Aus Wunsch wird Wirklichkeit
Georges wurde in meiner Firma ausgebildet und bekam danach bei uns einen Arbeitsvertrag. Seine junge Ausbilderin Regina sorgte dafür, dass nicht nur die kaufmännischen Kenntnisse, sondern auch die Besonderheiten der deutschen Unternehmenskultur von Georges aufgenommen wurden. Im letzten Monat seiner Ausbildung – genau während der Prüfungen – musste ich Georges aus Köln nach Aachen in unserer Filiale umsetzen. Er musste eine erkrankte Kollegin einen ganzen Monat lang vertreten. Geduldig fuhr er täglich von Köln nach Aachen zum Büro, arbeitete dort, kam am Abend zurück und bestand die Abschlussprüfungen letztendlich mit Bravour. Heute bedient Georges täglich mindestens 15 Kunden, spricht mit ihnen Deutsch, Englisch oder Arabisch und niemand denkt mehr an sein Motivationsstatement. Ich frage ihn jetzt auch nicht, ob er nun ein Sprachhändler ist, weil sein Beruf eine konkrete Bezeichnung hat: „Manager für Bürokommunikation“. Manchmal aber beobachte ich ihn heimlich im Kundengespräch und sehe das Leuchten in seinen Augen. War das die Bedeutung des Wortes „Karriere“, das er in seiner Anfangszeit in Deutschland meinte? War genau DAS sein Wunsch? Ein Teil meines Teams und für seine Kollegen eine richtig tolle Unterstützung zu werden? Hatte er überhaupt gewusst, wie sein Leben nach der Ausbildung aussehen werden würde? „Ja“ – sagte mir Georges beim Unterzeichnen seines Arbeitsvertrages. „Ich werde meine Miete selbst bezahlen und meine Freundin heiraten!“ – genau das wollte er schaffen.
Einen Beruf haben, seinen Arbeitsvertrag gerne erfüllen, ein Glied in der Menschenkette zu sein, die als Lingua-World zufriedene Kunden bedient, mit dem verdienten Geld heiraten und später Kinder ernähren… Das ist doch eine Karriere, unabhängig davon, ob man eine Hochschule oder eine Ausbildung absolviert hat. Die Verantwortung für sich selbst, zu unserer Umgebung und zu der Welt um uns herum ist die gleiche. Wenn wir das alles als ganz normal empfinden, warum sollen wir nicht ganz normal sagen können: „Ich will Karriere machen“. Öffentlich zu sagen: „JA, ich bin ein Karrieremensch!“ Und wenn das jemandem angeberisch vorkommt, dann ist das eben so. Karriere zu machen, ist für mich ein Grund stolz zu sein. Georges macht seine Karriere: Er ist ein stolzer Sprachhändler.