Vorstellungsgespräch nennt man das erste Treffen zwischen einem arbeitsuchenden Menschen und dem Arbeitgeber, nicht wahr? Die Dame, die vor meinem kleinen Büro in Köln wartete, hatte meine Anzeige in der Zeitung gelesen, und wir hatten telefoniert. Es war ein Samstag. Unter der Woche konnte ich keine halbe Stunde finden, um eine Kraft für mein Büro einzustellen.
Die Dame war trotzdem nicht fürs Wochenende angezogen. Sie trug ein elegantes hellblaues Kostüm, das die Farbe ihrer Augen betonte. Fasziniert von ihrem Stil, dem Lächeln und ihrer Gestik stand ich ihr gegenüber. Das Vorstellungsgespräch war eine nette Unterhaltung, die mir in dieser ersten „arbeitsfreien“ Stunde guttat. Die Dame erzählte, dass sie gekündigt worden sei und sie eine große Abfindung bekommen habe. Aus der Abfindung habe sie sich eine eigene Wohnung gekauft und nun sei sie an meiner „Sekretärinnen“ Stelle interessiert. Es war ein Minijob und wir vereinbarten die Stundenzahl. Ich war weiterhin so angetan von der Ausdrucksweise der Dame. Besonders angenehm war die Tatsache, dass sie älter als ich war und sogar fürsorglich wirkte. Ich war gerade mal 40 geworden, aber meine Unerfahrenheit als Arbeitgeber suchte intuitiv genau das: die Unterstützung einer erfahreneren Sekretärin.
Große Erwartungen
Ein kleiner Vertrag von dem Steuerberater war dann die rechtliche Schiene, auf der wir unsere erste Begegnung zum Arbeitsverhältnis gemacht haben. Der Rest war warten, warten, warten… Auf die Kunden natürlich. Ich dolmetschte Tag und Nacht, Frau Müller wartete vormittags in dem kleinen Büro auf die Kunden. Wochenlang, monatelang. In dieser Zeit blieb unsere erste Sympathieebene konserviert. Wir telefonierten manchmal und sahen uns selten.
Und dann kam sie: die erste Kundin. Es war eine Frau aus der Nachbarschaft, die 20 Seiten aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen lassen wollte. Die „Star-Sekretärin“ – so nannte ich Frau Müller mittlerweile, hat alle notwendigen Maßnahmen zur Fertigung der Übersetzung wie aus dem Bilderbuch getroffen. Übersetzerin kontaktiert, Auftrag erteilt, alles eingetütet und mich angerufen. Ihre Stimme war stolz und zufrieden. Die Summe, die wir aus diesem ersten Auftrag bekommen sollten, war bombastisch: 2.000 DM!
Jetzt wäre es sinnlos, die Freude zu beschreiben, die mich gepackt hat. Etwa fünf Tage später rief meine Sekretärin an und teilte mir mit: „Die Dame wird die Übersetzung um 17 Uhr abholen, ich habe alles vorbereitet.“ Ihre 4-stündige Arbeit endete um 13 Uhr und … warum nicht! Ich, die stolze Inhaberin des kleinen Büros sollte das Produkt der ersten Kundin überreichen. „Besser geht’s nicht“, dachte ich und wartete.
Um 17 Uhr kam niemand.
Um 18 Uhr auch nicht.
Ich öffnete die Mappe mit den Unterlagen und tippte die Telefonnummer der Kundin.
Kurze Vorstellung meinerseits und dann …
„Ja, ich war in Ihrem Büro und habe mich nach dem Preis erkundigt. Einen Auftrag habe ich nicht erteilt.“
Ich realisierte langsam: Ich hatte keinen ersten Auftrag, nur eine große erste Übersetzerrechnung.
Am nächsten Tag saß ich alleine in meinem Büro. Ich nahm ein weißes Blatt Papier und schrieb in die Mitte: „Kündigung“. Dann beschrieb ich in ein paar bitteren Sätzen meine Enttäuschung. Die Tränen rollten aus meinen Augen und tropften auf die Kündigung. Eine Anfänger-Arbeitgeberin kündigte und weinte. Aber weshalb eigentlich?
Große Verantwortung
Die Trennung tat mir weh. Die Rechnung der Übersetzerin habe ich bezahlt, aber es war nicht das Geld, das ich so betrauerte. Mir wurde bewusst, dass ich ein Leben beginne, in dem ich Worten und Erscheinung kaum vertrauen darf. Ich werde Verantwortung für die Taten anderer Menschen tragen müssen! Ich werde Hoffnungen in die Welt setzen, ohne in die Köpfe der Menschen schauen zu können! Wie werde ich dann die Menschen finden, auf die ich mich verlassen kann? Wie werde ich deren Kenntnisse, Loyalität und Ehrlichkeit erkennen? Was wird passieren, wenn ich wieder nur zu bezahlen haben und gar keinen Gewinn erzielen werde?
Die Fragen häuften sich. Ich ließ das Blatt Papier mit der Kündigung auf dem Schreibtisch liegen und ging.
Diese Erfahrung mit meiner ersten Angestellten habe ich 22 Jahre lang nicht vergessen. Sie hat mich geprägt. Seitdem habe ich viele Vorstellungsgespräche in verschiedenen Ländern geführt und viele Menschen getroffen. Ihre Kleidung und die Gesichtsausdrücke weiter betrachtet und bewertet. Ich habe mir aufmerksam ihre Worte und Vorstellungen angehört. Aber ich weiß jetzt, dass ich nur in der Praxis feststellen kann, ob mein erster Eindruck stimmt. Trotzdem habe ich nicht aufgehört zu glauben. Ich glaube bei jedem Vorstellungsgespräch, dass vor mir ein Star-Kandidat sitzt und ich glaube an eine wunderbare Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung. Mit diesem Glauben stelle ich Jahr für Jahr das Team zusammen, welches die Werte meiner Firma trägt. Vielseitig, unterschiedlich, aber ehrlich und verbunden sind diese Lingua-World Menschen.
Menschen machen Unternehmen. Unternehmen sind Menschen. Und es gibt sie – die Star-Kandidaten, die zu einem Star-Team gehören.