Wir waren alle in einem Saal der Bezirksregierung versammelt und durften die Begrüßungsrede hören. Man beglückwünschte uns zum Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit und händigte uns danach das entsprechende Dokument aus. Einer nach dem anderen wurde aufgerufen, erhob sich und ging persönlich nach vorn zu der Amtsperson. Nach einem kurzen Händedruck erhielt dann jeder das Dokument, auf dem die neue und für manche lang erwartete Staatsangehörigkeit stand: Deutsch.
Ich war förmlich angezogen und in Begleitung meines Sohnes dort erschienen. Dieser Moment bedeutete mir sehr viel. Ich hatte dafür meine bulgarische Staatsangehörigkeit endgültig abgegeben und erhielt nun die deutsche. Es war eine emotionale Entscheidung gewesen, und jetzt genoss ich den Moment des Aufstehens, den Gang nach vorn und natürlich den Empfang der Urkunde. Ein Stück Papier, aber dieses Papier versetzte mich in eine neue Realität, die aus mir auch eine andere Person machte. Diese Person hatte sich entschieden, ihre Heimat zu ändern.
Auch die Journalistin, die im Saal war, hatte meine große Emotionalität bemerkt und bat mich zu einem kurzen Interview. „Warum nehmen Sie die deutsche Staatsangehörigkeit an?“ – lautete die Frage. Eine kurze und eher profane Frage. Tja, warum? Darüber hatte ich bis dahin gar nicht nachgedacht, so selbstverständlich war das für mich gewesen… Und nun musste ich zu diesem „warum“ etwas sagen. Statt Worte aus meinem Mund erschienen zunächst Bilder vor meinen Augen: mein Ankommen in Deutschland, die Stunde Null, die Sprachschule, meine erste Tätigkeit als Journalistin und all diese Menschen, die mir begegnet waren. Anfangs, der deutschen Sprache noch nicht mächtig, hatte ich Englisch gesprochen, dann kamen die ersten Worte und die ersten vollständigen Sätze auf Deutsch. Dann das erste gelesene Buch, wofür ich bei fast jedem zweiten Wort das Wörterbuch aufgeschlagen hatte. Zuerst hatte ich die Worte, dann die Straßen von Köln, die Städte außerhalb Kölns und viele Gepflogenheiten erlernt, und währenddessen nach und nach schon einen Freundeskreis gefunden. Und ich erinnerte mich an die Menschen, die mich fragten, ob ich Hilfe brauche und mir diese gaben. Immer, wenn ich die Tür meines kleinen Apartments öffnete, hatte ich das Gefühl ein Stück Heimat zu haben. Auch die Kölner Universitätsgebäude waren ein Stück dieses neuen Zuhauses für mich, die Bibliothek, der Supermarkt. Überall grüßte man mich freundlich und ich öffnete mich mehr und mehr für das Leben in diesem neuen Land.
Als ich einmal von einer Reise nach Nord-Deutschland zurückgekommen und am Bahnhof ausgestiegen war, stand ich plötzlich im Schatten des Kölner Doms und spürte meinen Puls. Mein Herz freute sich und meine Augen wurden feucht. Ich schaute auf den Dom und begrüßte ihn mit einem warmen Lächeln. In dem Moment schien mir, ich sei nach Hause gekommen.
Die Stimme der Journalistin holte mich schließlich aus diesen Erinnerungen… Sie fragte erneut, warum ich die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte. Ohne weiter nachzudenken, aus der Tiefe meines Herzens, antwortete ich:
„Ich muss den Dom sehen…“
Sie schrieb, ich erzählte weiter und konnte kaum stoppen: „Im Korridor neben meinem Apartment wohnt eine alte Frau. Jeden Abend wartet sie auf mich und bringt mir eine warme Suppe. Der Vermieter schenkt mir zu Weihnachten immer eine Tafel Schokolade, und die Verkäuferin im Supermarket nennt mich bereits beim Vornamen… Ah, und die Bankberaterin hat mir alle Besonderheiten der Kontoführung, von welchen ich in Bulgarien keine Ahnung hatte, geduldig erklärt. Und von den vielen Menschen, die wissen wollen wie es mir geht, und von denen, die versuchen, mir die Karnevalslieder beizubringen…“
Dann stoppte ich und entschuldigte mich für meine Tränen. Freude und Dankbarkeit flossen aus meinen Augen, und die Journalistin hörte auf, sich meine Sätze zu notieren. Sie freute sich sichtlich mit mir und verabschiedete sich mit einem kurzen „Danke“. Am Abend sah ich mein Foto in der Zeitung unter dem Titel:
„Ich muss den Dom sehen…“
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Das Bedürfnis, den Dom zu sehen, hat sich nicht geändert, nur die vorübergehenden Abschiede von Dom und Köln sind häufiger geworden. Ich habe nicht nur mein Herz für meine neue Heimat geöffnet, sondern ihr auch meinen Mut und meine Visionen gewidmet. Ich gründete die Firma Lingua-World, weil ich das Bedürfnis hatte, meine Dankbarkeit in Taten umzusetzen. Mein größter Wunsch war, zusammen mit anderen Menschen meine Visionen über eine einwandfreie Verständigung zwischen Menschen und Kulturen umzusetzen. Tag für Tag kommen seither neue Aufgaben, neue Projekte, neue Menschen. Dabei wachsen meine Wurzeln tiefer und tiefer in den deutschen Boden.
Heute lächele ich über dieses „warum“.
Ich hatte nicht mal für einen kleinen Moment daran gezweifelt, das Richtige zu tun. Veränderungen sind Chancen, und meine Chance war, 1990 nach Deutschland zu kommen.
Zu kommen, um zu bleiben!